Ich bin neu hier
Die Anmeldung dauert nur wenige Augenblicke.
Vor etwa einem Jahr erzählte mir Kam. Pascal Waringo, der Delegierte der Union bei der
C.C.E.G., von einem Projekt in Französisch-Guyana.
Das Land von der Größe Österreichs ist ein Übersee-Departement Frankreichs und gehört
somit trotz seiner Lage nördlich von Brasilien auf dem Südamerikanischen Kontinent zur
EU. Die zwei anderen «Kleinstaaten» – Surinam (ehemals holländische Kolonie) und Guyana
(ehemals englische Kolonie), die sich entlang der Küste Richtung Venezuela nach Norden
hin befinden – sind heute unabhängig.
Französisch-Guyana ist nach wie vor zu 95% von Dschungel bedeckt. Nur eine durchgehende
Nationalstraße in Küstennähe verbindet die Hauptsiedlungsgebiete der etwa 300.000
Einwohner von Saint Georges im Süden über die Hauptstadt Cayenne und Kourou bis
Saint-Laurent du Maroni im Norden, wo der Fluss die Grenze zu Surinam stellt.
Weder der französische Staat – der in Kourou gemeinsam mit der EU die Europäische
Weltraumbasis (Arianespace) betreibt und auch seine Fremdenlegionäre im Dschungel
ausbildet – noch die Einwohner, die vom höchsten Lebensstandard auf dem Kontinent
profitieren, sind wirklich gewillt, das Land in die Unabhängigkeit zu entlassen.
Die ethnisch bunt gemischte Bevölkerung setzt sich heute wie folgt zusammen: Es sind
Indigene, die teilweise noch komplett ohne Zivilisationsanbindung im Regenwald leben;
afrikanischstämmige Maroons, Nachfahren geflohener Sklaven, die bereits seit
Jahrhunderten auf der anderen Seite des Atlantiks ähnliche Lebensbedingungen
vorfanden; das Volk der Hmong, eine asiatische Minderheit, die nach dem Ende des
Indochina-Kriegs aus ihrer Heimat Laos vor einem drohenden Genozid floh und auch
europäische Einwanderer. Natürlich gibt es heute auch Migrationseinflüsse aus den
Kriegsgebieten der letzten 20 Jahre im Nahen Osten, indische Einwanderer und immer
mehr Menschen aus dem benachbarten Brasilien oder auch Surinam, die auf der Suche
nach besseren Arbeitsbedingungen ins Land kommen.
Kaum einer von euch kann, so glaub’ ich, diesen Flecken Erde einordnen. Doch wenn ich die Teufelsinsel und die Dreyfus-Affäre erwähne oder den Hollywood Klassiker «Papillon» mit Steve McQueen und Dustin Hoffman aus dem Jahre 1973 anspreche, dann begreift ihr, warum dieses Paradies noch heute ein Schattendasein führt. Es ist ein schwarzer Fleck auf der weißen Weste der bürgerlichen Republik Frankreich. Tausende Kriminelle und politische Gefangene wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts über den großen Teich in die Lager im Dschungel gebracht. Nach der Devise, alle der Gesellschaft nicht konformen Individuen aus Frankreich zu schaffen, fand fast die Hälfte aller Deportierten in den Sümpfen von Französisch-Guyana oder unter der Guillotine den Tod. Seit der Aufgabe dieser Strafkolonie 1946 haftet trotz Aufarbeitung und Umwandlung der Hauptlager in Museen dieses Erbe schwer. Die anderen Übersee-Departements in der Karibik, wie Guadeloupe, Martinique oder La Réunion im Indischen Ozean sind touristische Hotspots geworden. In Guyana findet man weder Touristen noch Hotelburgen.
Aus der Kolonialzeit stammt die Präfektur in der Hauptstadt Cayenne. Gleich einem
Präsidentenpalast beherbergt sie bis heute das politische Zentrum im Lande. Die
ursprüngliche Bauweise des Hauptgebäudes mit zwei, einen Innenhof flankierenden Flügeln,
ist komplett in Fachwerk gebaut. Später wurde eine von Säulen gestützte weiß getünchte
Galerie zum Hauptplatz hin ergänzt. Dieser pompöse Kolonialkitsch bestimmt heute die
Erscheinung des Gebäudes – vor allem die mediale Präsentation im Internet. Hinter dem
gelifteten Gesicht ist aber der gute alte Körper krank geworden. Die Fachwerkfassaden
wurden über Jahrzehnte misshandelt, termitenzerfressene Schwellen, Steher und Riegel
mit Beton ausgegossen. Es entstand ein konfuser Tragwerksmix zwischen dem Erdgeschoss,
wo Stahlbetonunterzüge die Last der Fassade und der Balkenlage aufnehmen im Gegensatz
zu der vom Vordach geschützten ersten Etage, wo das Fachwerk immer noch das Dach trägt.
Um der weiteren Verstümmelung Einhalt zu bieten und auch dem gesamten Baukulturerbe der
Übersee-Departemente Frankreichs gerecht zu werden, hat nun der Besitzer des kranken
Körpers – der Staat Frankreich –, im speziellen die Denkmalpflege in Paris, sich dieses
Gebäudes angenommen.
Und da kommen wir ins Spiel. Auf Anfrage der ausführenden Zimmerei in Guyana war Kam.
Pascal als Sachverständiger für Altbausanierung kurz vor Ort, um seine Erfahrungen den
Kollegen in Cayenne zu vermitteln. Im Anschluss suchte er dringend nach Gesellen, die
zum einen Fachwerke sanieren können und zum anderen sofort einsetzbar wären. Leider sind
seine eigenen Compagnons aufgrund ihrer Art der Tippelei nicht spontan einsetzbar,
weshalb er mich um die Hilfe der anderen C.C.E.G.-Schächte bat. Für ein solches Projekt
fände er sicher Reisende und ich schlug vor, sie auf der Jahreshauptversammlung der
C.C.E.G. in Lauf a. d. Pegnitz direkt zu schanghaien. Natürlich fanden wir ein fixes
Zweiergespann zur JHV, das happy war, in vier Wochen das Projekt in Cayenne zu pushen.
Mitte November erhielt ich eine SMS von Kam. Pascal aus Toulouse. Er hätte keine
Neuigkeiten von den zwei Reisenden. Sie müssten doch in einer Woche den Flieger nehmen
und er mache sich große Sorgen. Sein Vorschlag: Ich solle doch mit e. FVD Peter Lambertz
rüberfliegen und das Projekt rocken. Das löste bei mir als einheimischem Krauter mit
Familie einen lauten Lacher aus, der aber schnell im Halse steckenblieb, als Kamerad
Pascal trotz des erteilten Gesellenwortes drei Tage später (5 Tage vor Baubeginn) per
E-Mail den Rückzieher der zwei Fremden erhielt.
Nun hatte Pascal in der Tat ein Problem und ich als Vermittler wortbrechender
Wandergesellen ein schlechtes Gewissen. Harte Verhandlungen mit meiner «Chefin»
brachten die Aussage «… mach doch was du willst, aber zu Weihnachten bist du wieder da!»
hervor. Von der Nordseeküste erhielt ich Peter Lambertz’ Zusage mitzukommen, sobald
seine aktuelle Baustelle fertiggestellt sei. So kam es, dass wir am Sonntag, den 3.
Dezember 2023 – nur eine Woche nach geplantem Baubeginn – als hochmotiviertes
C.C.E.G.-Notfall-Einsatzkommando im Dschungel landeten.
Eine kurze Nacht später wurden wir unserem Patienten vorgestellt. Unser erster Gedanke
war: „Häääääh ? ? ? Wat is dat denn hier?“ Die ganze Fassade war nämlich mit statisch
tragenden Gerüsttürmen (voller Auskreuzungen, aber ohne eine Leiter) verbaut. Die
Intention der Ingenieure und Bauleiter war sicher gut gemeint – das tonnenschwere Dach
samt neuer Biberschwanz-Eindeckung über das große Vordach abzustützen. Nur hatte man die
Hauptakteure dieser ganzen Aktion nicht gefragt. Man hatte unserem Patienten das
zerstörte Skelett eingegipst, bevor es repariert oder in unserem Fall zu ¾ ausgetauscht
war.
Wir erklärten die Notwendigkeit der Baufreiheit bei Fachwerksanierung. Es sei unmöglich, bei 5 bis 20 cm Platz zwischen Fachwerk und Rüstung die Fassade abzubauen, geschweige denn eine neue zu richten. Zumal laut Denkmalverordnung alle historischen Verbindungen (Zapfen, Hackenblätter, Gerberstöße etc.) und sogar deren Positionen im Bauwerk rigoros wieder herzustellen seien. Mit Hilfe von Skizzen zur Vorgehensweise versuchte ich, die eigene Firmenleitung und später auch die Architekten zu überzeugen, dass die Gerüsttürme verschwinden müssen und wir die Hütte komplett neu über den Innenraum abstützen werden.
Wir, das waren neben Kam. Peter und mir nun auch Leon, ein junger Franzose, der seine
Ausbildung bei der Association gemacht hatte, und Papi Nelson, ein begnadeter Zimmerer
aus Brasilien, der kurz vor der Rente steht. Unser Vorschlag, den geplanten Bauablauf
komplett zu verwerfen, traf auf keine Gegenliebe in den Entscheidungsgremien (Gerüst
umsonst gestellt, Ingenieure alles neu berechnen, neue Unterschriften und Genehmigungen
einholen etc.). Der Durchbruch kam erst, als ich die Entscheidungsträger an den
erwünschten Baufortschritt bis Weihnachten erinnerte.
Wir vier auf der Baustelle warteten nicht die ganze Woche auf grünes Licht von oben
sondern hatten bereits am 2. Tag das Haus über zwei Etagen im Innenraum mit Drehsteifen
und starken Schwell- und Rähmhölzern abgefangen. Von oben her bauten wir nun das
Fachwerk langsam zurück. Die Betonung liegt auf langsam, denn wir hatten das Gefühl,
mit Stahlbau konfrontiert zu sein. Unglaublich, aber wahr – ein 16 x 16 cm und 3 m
langer Fachwerksteher verlangte auf der anderen Seite der Bau-Umlenkrolle mind. drei
Zimmerer unseres Kalibers als Gegengewicht. Angelique und grünes Ebenholz (Cocus)
kennen in unseren Breiten eher die Instrumentenbauer – Möbelschreiner benutzen es als
Furnier. Da drüben wurden früher ganze Siedlungen, inklusive der Dachstühle, daraus
gebaut. In einem Land ohne Nadelholz sind auch die Dachlatten oder Lagerhölzer so fest
und schwer wie ein Eichenriegel.
Nach der ersten Arbeitswoche war die Wand säuberlich in ihre Einzelteile zerlegt und durchnummeriert in zwei Stapeln auf unserem Abbundplatz unter dem großen Mangobaum aufgeschichtet. Den großen Stapel nannten wir «Friedhof» und den kleinen «Quarantäne». Wir konnten die «Kadaver» nicht einfach entsorgen, da die Architekten und Denkmalpfleger etwas verkopft darauf bestanden, das Altholz wieder zu verbauen. Nun konnten sie jedes Teil begutachten und entscheiden. Als Entscheidungshilfe entnahm ich dem Kernbereich der Hölzer ein großes Stück schwarzer Wabenschlacke – fest wie Vulkangestein – zerbrach es und zeigte die wild wuselnden Termitennester im fast 200 Jahre alten Tropenholz den erstaunten Gesichtern. Entsprechend groß fiel nun die Holzbestellung aus. Die Bauelemente aus der Quarantäne mussten wir aber aufwändig sanieren, oft durch Amputation der Fußbereiche. Es wurde angeschuht, verlängert und falsche Zapfen aus Neuholz eingepasst. Doch nun entflohen Peter und ich erstmal der schwül-heißen Schaniegelei ins Wochenende. Dank unseres Firmenwagens waren wir jederzeit mobil und konnten auch unter der Arbeitswoche die nahen Strände zu Feierabend genießen.
Auf den Spuren der Verbannten reisten wir nach Kourou und setzten am Samstag morgen zum
etwa 1,5 Stunden vor der Küste liegenden Archipel der Verdammten, den Îles du Salut
(Heilsinseln), über. Die drei Inseln – Königsinsel, Teufelsinsel und Sankt-Joseph-Insel –
stehen nach wie vor unter der Verwaltung des französischen Militärs. Am Steiger der
Hauptinsel empfingen 2 Fremdenlegionäre die Passagiere mit den Worten: „Keine wilden
Tiere füttern, auf den Wegen bleiben, um Gottes Willen nirgends außer am einzigen
Badespot in den Ozean steigen und immer nach oben schauen, die Konfrontation zwischen
Palmenfrucht und Kopf gewinne meist die Kokosnuss …“ Mit raunendem Gelächter zerstreute
sich die Schiffsgesellschaft ins Inselinnere. Peter und ich nahmen den Küstenwanderweg
in Angriff. Herrliche Ausblicke auf die Teufelsinsel, wo Alfred Dreyfus’ Steinhütte
noch am Palmenhain sichtbar ist, großartige Flora und Fauna und die Tatsache, dass wir
allein diesen Weg beschritten, belohnten diese Entscheidung. Irgendwo im grünen
Paradies – gerade als ein reizendes Affenjunges unsere volle Aufmerksamkeit
beanspruchte – schlug ein Geschoss zwischen Peter und mir ein. Verdattert schaute ich
empor und sprang im letzten Augenblick zurück als eine zweite Kokosgranate noch meine
Hutkrempe streifend den Boden erschütterte. Der lausige Affen-Bengel hatte sich
kreischend, amüsiert Richtung Palmwipfel gepackt und da sahen wir sie: seine tobende
Affenbande. Das war zu viel, denn das war ein gezielter Angriff – und ich nahm es
persönlich.
«Nennt ihr die Gastfreundschaft – hinterhältige Meute. Sowas schimpft sich unsere
Vorfahren, unverschämtes Affenpack. Verdammte Bande, genau verdammt – wir können euren
Dreckhaufen im Meer heute Abend wieder verlassen – ihr seid für immer verdammt und
hier verbannt usw. usw.»
Laut fluchend trollten wir uns aus deren Wohnzimmer und stiegen auf den Hügel, wo die
ehemaligen Gefängnistrakte, die Behausungen der Wärter, aber auch der
Kinderfriedhof das Blut bei knapp 40 Grad Hitze gefrieren lassen. Das Gelbfieber
machte keinen Unterschied zwischen Verbannten, Wärtern oder Geistlichen. Es raffte bis
zur Erfindung des Impfstoffs alle gleichermaßen dahin. Nach dieser Geschichtsstunde in
die menschlichen Abgründe ließen wir den Insel-Tag am Meer, d. h. in einer kleinen
Bucht, die die «Piscine des bagnards» also das «Schwimmbecken der Strafgefangenen»
genannt wird, ausklingen. Dabei handelt es sich nur um schwere Steinbrocken, die von
den Gefangenen in der Bucht im Carré versenkt wurden und somit die Möglichkeit boten,
vor Haien und Strömung geschützt der Körperpflege nachzukommen. Gute Idee, dachten wir
zwei und stürzten uns ins lauwarme Nass. Vor dem Hintergrund aller Geschichten und
Vorkommnisse bleibt der illustre Badegast von ganz allein auf 3-fache Armlänge zur
Kaimauer. Urplötzlich tauchte etwa 2 m vor uns ein großes Geschöpf aus den Fluten. Was
für eine Erleichterung, die große Meeresschildkröte nutzte mit ihrer Familie denselben
Badeabschnitt (Schwimmerbereich) vis-à-vis zur Teufels-insel.
Zurück auf dem Festland düsten wir noch durch den nächtlichen Dschungel bis Saint-Laurent
ganz im Norden. Die eindrücklichen Zeitzeugen bereits vor hundert Jahren auf Grund
gelaufener Dampfschiffwracks erzählen die Geschichte des ehemals wichtigen Hafens
im Maroni River. Dort kamen alle Häftlinge an und wurden vor Weiterverteilung in die
Strafkolonien im berüchtigten «Camp de la Transportation» interniert.
Die zweite Arbeitswoche galt dem Abbund der höllisch schweren Steher, Schwellen, Riegel
und Streben. Mein linker Daumen erinnert mich seit nunmehr 2 Monaten (und noch weitere
fünf) daran, dass man «Eben» eben nicht allein auf den Böcken umkanten sollte, wenn
daneben eben der nächste Ebensteher ruht und man 200 kg Anpressdruck auf einer weichen
Fläche von 1 cm 2 zusammenführt. Physisch entlädt sich diese spannende Kombination in
einer erstaunlich kurzweiligen Performance – für die Umstehenden. Da ist von
Freudengeschrei, Tänzen bis zu Luftsprüngen alles dabei, bis das Spektakel über die
Tempi Allegro hin zum Andante in einem etwa dem Adagio zuzuordnendem Gewimmer ausklingt.
O. k., lasst mich lieber wieder vom Wochenende erzählen. Diesmal stand der Dschungel auf
dem Programm. Der Projektleiter in der Firma, unser lieber Freund Guillaume, lud uns zu
einem Ausflug mit seiner Frau Jaqueline und den Töchtern ein. Ihr müsst wissen, dass es
für die Dschungelrandbewohner da drüben nichts Schöneres gibt, als in der Freizeit noch
tiefer in den Regenwald einzudringen. Dafür beladen sie die Piroggen mit Kind und Kegel
und heizen die wilden Dschungelflüsse hinauf zu den komplett im grünen Nichts
verborgenen «Carbets». Das sind einfache Unterstände, d. h. es wurde eine kleine in
Ufernähe liegende Fläche gerodet, darauf wird eine hölzerne Terrasse etwa einen Meter
über dem Boden gestellt, die wiederum mit Wellblech überdacht wird. Es gibt außer
aufgefangenem Regenwasser und allem Mitgebrachten nichts aus der Zivilisation.
Geschlafen wird aus Respekt vor den Nachbarn im Dschungel in Hängematten.
Das taten auch wir, nachdem die letzte Rumflasche verdunstet war. Irgendwie fand
Guillaume nicht das richtige Gleichgewicht. Peter röchelte tief im Rausch in seiner
Matte und ich saß als letzter blöde grinsend in der Finsternis, als es einen lauten
Schlag gab. Der ganze Dschungel war wach – naja außer Peter. Ich konnte das alles eh
nicht zuordnen und war viel zu beschäftigt, meine Zunge aus dem Flaschenhals zu
befreien. Glücklicherweise waren da die drei Mädels, die Guillaume in einer extra
mitgeführten Nothängematte wieder vom Dachstuhl abhingen. Verdammt gefährlich – im
Dschungel.
Am nächsten Tag geschah, was eben da draußen so passiert. In der Matte abhängen und
dem Regen lauschen, in die Fluten springen, versuchen, sich nicht im Wald zu
verlaufen und mit ‘ner Smith & Wesson auf PET-Flaschen ballern. Meine ehrlich erlegten
Trophäen – ihr hättet sie sehen müssen – verschwanden im Müllbeutel, bevor sie auf
Jagdplaketten aus Eiche oder Ebenholz dem Schützen über meinem Genfer Sofa zur Ehre
reichen konnten.
Etwas mulmig wurde es bei der Rückfahrt, als der Außenborder den Dienst versagte. Ohne
Anreißleine und keinem Paddel an Bord zählte ich bereits im Kopf die verbleibenden
Startversuche, bevor die Batterie abnippelt. Ich kannte den 40-PS-Viertakter von Honda
samt seiner Allüren bereits vom «Rheinfloßprojekt» von Tippeleizeiten her. Vieles
Zureden, Streicheleinheiten und gemäßigte Gewaltanwendung konnten ihn zum Glück
umstimmen. Da wir seit zwei Tagen keinem anderen Menschen begegnet waren, auch keinem
Boot auf dem Strom, der nächste Handyempfang etwa 5 bis 10 Stunden Fußmarsch durch
dichten Dschungel entfernt war und die Rückfahrt entgegen der kräftigen Strömung auf
dem Fluss stattfinden musste, war ein Gefühl der Anspannung durchaus gerechtfertigt.
Eine Woche bis Weihnachten – kriegen wir die Wand ins Gefüge? Mitte der dritten Arbeitswoche lag die Fachwerkfassade auf ihrem Unterbau komplett gefügt und mit Angelique-Holznägeln «verbolzt». Laut Adam Riese müsste das etwa 7 mal 7 Meter (zwei Etagen) große Skelett 3 Tonnen wiegen. Es führte kein Weg dahin, dass wir die Fassade geteilt nach Etagen hätten richten können – viel einfacher, sicherer und auch für die Zukunft sinnhafter. Nun gut: Wir verstärkten also die Schwachstellen (alle Holzverbindungen) mit Druckhölzern, Schraubzwingen und Gurten und wagten am Mittwochnachmittag den komplizierten Hub. In mehreren Etappen brachten wir unser Baby in die Vertikale. Dabei mussten wir selbst den Manitou umstellen und die Abhängung vom Kragarm ständig anpassen. Es galt, die Wand unters große Vordach – quasi von vorn und leicht schräg ranzuschieben.
Endlich geschafft, bis zum 22. Dezember wurde alles ausgerichtet und fixiert, damit die
Maurer im neuen Jahr mit der Ausfachung anfangen konnten. Am Freitag vor Heiligabend fand
die Weihnachtsfeier in den Büroräumen der Firma statt. Geschätzte 30 Champagnerflaschen
rutschten die Kehlen hinab. Es war nun Zeit, von den lieben Freunden in Guyana Abschied
zu nehmen. Guillaume und seine Familie waren mir ans Herz gewachsen, genauso wie Papi
Nelson – ein so begnadeter Zimmerer, der niemals eine offizielle Bestätigung für sein
zauberhaftes Können erhielt.
Am 24.12. rannte ich in Paris mit Taschen voller Rum und Ebenholz, aber ohne Hut dem TGV
nach Genf hinterher – vergebens. Mein Flieger war zu spät gewesen und der Pariser
Nahverkehr eine Katastrophe. Es war bereits Nachmittag und das Versprechen gegenüber
meiner «Chefin» füllte den Raum zwischen mir und dem 500 km entfernten Zuhause. Einen
TGV an Heiligabend finden? – Ein Upgrade war die Lösung. So fand ich erster Klasse doch
noch nach Hause und war gegen 21 Uhr auf der Weihnachtsfeier anwesend. Ich hatte mein
Versprechen ziemlich knapp halten können – zwar ohne Hut aber das war egal.
Denn der wohnt jetzt auf Papi Nelsons Kopf.
Dieser Beitrag und die Fotos stammen aus dem BULLETIN Ausgabe 86 und wurden von
Bernhard Mergel FVD verfasst.
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